Neues aus dem Freundeskreis „Lasst uns eine Haltung von radikalem Mitgefühl entwickeln“
„Politisch aktiv sein – und bleiben! Klimakrise, Selbstfürsorge und radikales Mitgefühl“ lautete der Titel der Tagung vom 29. September bis 1. Oktober, die Menschen allen Alters in die Akademie lockte. Einigen jungen Menschen hatte der Freundeskreis der Evangelischen Akademie Tutzing ihre Teilnahme durch ein Stipendium ermöglicht. Unter den Teilnehmenden war auch Sophie Friedl, die in diesem Bericht das Wochenende Revue passieren lässt.
„Das Seufzen der Schöpfung, der Schrei der Erde, das Rufen des Lebens. Handeln – aus Liebe zur Schöpfung, aus Verantwortung für die Erde, aus Freude am Leben.“ Diese Worte aus der Morgenandacht am Tagungssonntag skizzieren das Spektrum an Themen und Gefühlen, um die es bei der Tagung „Politisch aktiv sein – und bleiben! Klimakrise, Selbstfürsorge und radikales Mitgefühl“ ging: Einerseits Angst um Menschheit und Mitwelt, Verzweiflung und Ohnmacht. Andererseits Lebensfreude, Naturverbindung und Tatkraft. Den roten Faden hatten die Tagungsleiter:nnen Katharina Hirschbrunn und Dr. Manuel Schneider entlang der tiefenökologischen Spirale nach der Systemtheoretikerin und Ökophilosophin Joanna Macy entwickelt.
Mara Linnemann und Mona Bricke, beide Klima-Aktivistinnen und Trainerinnen, beschrieben die Spirale der Tiefenökologie als einen zyklischen Prozess. Seine vier Phasen weisen einen Weg, um angesichts der ökologischen Katastrophen nicht zu zerbrechen, sondern sich Herausforderungen zu stellen und daraus Klarheit und Mut zu schöpfen. Das Modell der Tiefenökologie gab der Tagung die Struktur: Sie umfasste mehrere Blöcke, die sich erstens mit Dankbarkeit, Erdung und Körperwahrnehmung, zweitens mit der konstruktiven Wahrnehmung von Gefühlen, drittens mit Perspektivwechsel und viertens mit Handlungsoptionen befassten.
Praktische Übungen in Selbstfürsorge
Im Komplex zu Dankbarkeit, Erdung und Körperwahrnehmung stellte Prof. Kathrin Rothenberg-Elder, Professorin für Psychologie an der Hochschule Diploma in München das Programm „Efa – Empowerment für Klimaaktivist:innen“ vor. Rothenberg-Elder erläuterte praktische Übungen der Selbstfürsorge wie die „Sorgenzeit“ und die „Stärken von A bis Z“, die, wenn sie regelmäßig in den Alltag integriert werden, helfen, aus der gefühlten Ohnmacht heraus und hinein in die Selbstwirksamkeit zu kommen.
Speziell dem unterbewussten, körperlichen Verarbeiten von überwältigenden Klimagefühlen wie Angst, Ohnmacht und Verzweiflung widmeten sich Angebote wie Embodiment im Engagement (Constanze Meyer), Naturverbindung und Wildniswissen (Mona Bricke), Yin Yoga (Annica Bauer), Body Scan (Katharina Kalchner), eine geführte Wanderung (Sonja Bonneß), achtsames Gärtnern (Daniel Dermitzel) und Kränzebinden aus selbstgesammelten Naturmaterialien (Mara Linnemann).
Daran schlossen Workshops und Impulsvorträge an, die Orientierung dazu boten, wie politisch engagierte Menschen ihren Gefühlen Raum geben und einen konstruktiven Umgang mit ihnen finden können. Katharina Kalchner, Kursleiterin für Achtsamkeit und Selbstmitgefühl, führte durch eine Meditation, in der die Teilnehmenden die Gefühle, die sie plagen, in ihrem Körper lokalisierten, um diese dann liebevoll zu umsorgen. Mona Bricke berichtete in ihrem Workshop von ihren eigenen Erfahrungen mit Aktivist:innen-Burnout und Depression – und wie sie den Weg heraus fand. Constanze Meyer von den Psychologists for Future zeigte auf, wie sich Klimaaktivismus und Achtsamkeit verbinden lassen, und Anja Kleer leitete Übungen aus der Transpersonalen Prozessarbeit an, um mit Überforderung, Ohnmacht und Resignation umzugehen.
Vom Fühlen zum Handeln
„Lasst uns eine Haltung von radikalem Mitgefühl entwickeln, und zwar gerade im politischen Engagement“ – so lautete das Plädoyer von Lena Schützle, Doktorandin am Lehrstuhl für Intercultural Social Transformation an der jesuitischen Hochschule für Philosophie München. Radikal mitzufühlen bedeutet für sie, sich selbst und die eigenen Gefühle wahrzunehmen, sich in die Perspektive auch der politischen Gegner:innen hineinzudenken und ihnen Gutes zu wollen. Zugleich berief sie sich auf ein Modell des Selbstmitgefühls der amerikanischen Psychologieprofessorin Kristin Neff. Demnach sollte Selbstmitgefühl zwei Eigenschaften aufweisen: Es sollte tender (zu deutsch zart, zärtlich, weich) und fierce (deutsch: heftig, wild, erbittert) sein. Neben dem „zärtlichen“ Selbstmitgefühl, bei dem es darum geht, sich selbst anzunehmen, braucht es auch das „heftige“ Selbstmitgefühl, das uns dazu antreibt, für uns einzustehen und aktiv die Welt zum Besseren zu verändern. Schützles Impulsvortrag baute, ähnlich wie Mona Brickes Workshop „Die Erde ist meine Zeugin“, eine Brücke vom Fühlen zur Ebene des (politischen) Handelns.
Den Phasen des Perspektivwechsels und Weitergehens sowie des wirkungsvollen Handelns widmeten sich Impulsvorträge und Workshops von Timo Luthmann, Dr. Thomas Dürmeier und Nina Treu. Gleich zu Beginn der Tagung machte Luthmann, Theologe und Autor des Buches „Nachhaltiger Aktivismus“, deutlich, welche erschreckenden ökologischen und sozialen Verwerfungen auf die Menschheit zukommen. Luthmann sieht es als unumgänglichen Schritt an, das Scheitern des 1,5-Grad-Ziels einzugestehen und sich auf „gesellschaftliche Teilzusammenbrüche“ einzustellen. Mut machte er mit seinem Plädoyer für eine zweigleisige politische Strategie: Während es auf politischer Ebene gelte, weiterhin auf eine verantwortungsvolle Politik innerhalb der planetaren Grenzen hinzuarbeiten, sei es gleichzeitig nötig, auf lokaler Ebene „solidarisches Prepping“ zu betreiben, also Selbstversorgung in Form von Gemeinschaftsprojekten voranzubringen.
Tragende Gemeinschaften bilden
Dürmeier, Vorstand und Campaigner von Goliathwatch e. V., stellte Erkenntnisse aus langjähriger politischer Arbeit in breiten Bündnissen vor. Er betonte, wie wichtig es sei, strategisch vorzugehen, und stellte Instrumente wie das Spektrum der Verbündeten vor. Damit breite politische Bündnisse tragfähig bleiben, empfahl er, sich auf Gemeinsamkeiten statt auf Trennendes zu konzentrieren und mit soziokulturellen Unterschieden offen umzugehen. Im Rahmen seines Workshops trugen die Teilnehmenden weitere bewährte Praktiken zusammen, so etwa Entscheidungsmechanismen wie den Konsent und das Systemische Konsensieren.
Zum Abschluss der Tagung lud Greenpeace-Geschäftsführerin Nina Treu zu einer Traumreise in eine Zukunft ein, in der die heute so akuten ökologischen und gesellschaftlichen Krisen gelöst seien. Die Teilnehmenden nutzten dabei ihre Vorstellungskraft, um sich ein Bild von ihrer ganz persönlichen Zukunftsvision zu machen und daraus Mut zu schöpfen. Daran anknüpfend stellte Treu die Systematik einer sozial-ökologischen Transformation vor und leitete daraus Teilstrategien für Pionier:innen, zukunftsorientierte Unternehmen, die Zivilgesellschaft und die Politik ab. Treu resümierte, dass die persönliche Haltung – wie die des radikalen Mitgefühls – einen großen Unterschied mache, warnte aber davor, sich auf diese Ebene zu beschränken. Die Gegner:innen einer Transformation hin zu einer ökologisch und sozial gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftsform arbeiteten mit unlauteren Mitteln und harten Bandagen; dem sei allein auf der „seelischen Ebene“ nicht beizukommen, sondern dafür sei es nötig, dass sich Klimaaktivist:innen verbündeten, organisierten und aktiv mitgestalteten.
Analytische & normative Diskussionen neben emotionaler und körperlicher Ebene
Was waren die Ergebnisse der Tagung? Viele engagierte Teilnehmende – darunter auffallend viele sehr junge Menschen – konnten hier ihre Batterien auftanken: dank praktischer Übungen an einem fast paradiesisch anmutenden Ort, in einem Park mit ehrwürdigen, riesigen Bäumen, spätsommerlichem Sonnenschein, weitem Blick über den See und bestens verköstigt mit gesunden, farbenfrohen Mahlzeiten. Die Tagung bot Anleitung und Inspiration, wie man sich individuell vor einem Aktivist:innen-Burnout schützen kann und wie (klima-)politisch engagierte Gruppen sich gemeinsam gesund, in Balance und nachhaltig handlungsfähig halten können. Denn psychisch-emotionale Regeneration ist nicht nur nötig für Aktivist:innen, die sich an vorderster Linie und mit vollem Körpereinsatz engagieren (bei der Bewegung Extinction Rebellion im Vereinigten Königreich ist es etwa üblich, Aktionen ein ganzes Wochenende lang mit Gesprächsrunden und Meditation zu verarbeiten). Auch alle anderen sozial und politisch engagierten Menschen brauchen in diesen Zeiten solche und ähnliche Formen der Selbstfürsorge.
Neben dieser sehr konkreten emotionalen und körperlichen Ebene stieß die Tagung auch analytische und normative Diskussionen an: Ist Achtsamkeit politisch (genug), gemäß der Aussage von Joanna Macy, dass das Radikalste, was wir heute tun können, darin bestünde, ganz präsent für das zu sein, was geschieht? Wollen wir strategisch, ziel- und zukunftsorientiert handeln oder eher aus dem gegenwärtigen Moment, aus dem Körper heraus unseren Impulsen folgen? Wollen wir uns politisch engagieren aus einem Warum heraus oder aus einem Wozu? Ist Selbstfürsorge ein „revolutionärer Akt“ (Audre Lorde) oder nur eine sehr nützliche Praxis für klimapolitisch Engagierte? In gewisser Weise spiegelte sich dieser Spagat beim abendlichen Singen ums Lagerfeuer in der Aufforderung: „Wir singen so viel von (Selbst-)Liebe, kennt wer auch ein paar Protestsongs?“
Singen, mit Blumen im Haar Ambivalenzen aushalten
Die tiefe Beschäftigung mit Gefühlen im Rahmen der Workshops sensibilisierte für die Ambivalenz einiger kultureller Praktiken, mit denen politisch engagierte Milieus ihre Kraft und Entschlossenheit beschwören. Gerade beim Singen: Wir wissen, dass bestimmte Melodien und Rhythmen uns aktivieren und ermutigen können – erst recht in Verbindung mit Liedtexten, die als positive Affirmation wirken. Und wir können uns diese Wirkung gezielt zunutze machen. Andererseits lassen viele Protestsongs wenig Raum für Zweifel oder für Gefühle wie Angst, Ohnmacht und Verzweiflung. Sie können, wenn sie nicht wie bei der Tagung gepaart sind mit emotionaler Selbstfürsorge, ein irreführendes Ideal des politisch engagierten Menschen zeichnen, der keine Furcht kennt, der nicht schwankt, der kein Ruhebedürfnis kennt und sich aufopfert. Als am Lagerfeuer mit Rio Reiser gesungen wurde „aber ich werde alles geben, dass er [der Traum vom Frieden] Wirklichkeit wird!“, warf eine Teilnehmerin denn auch scherzend ein: „Aber nicht alles geben! Das haben wir ja jetzt gelernt.“
Die Formate und Sozialformen der Tagung waren mit ganzheitlichem Blick auf die teilnehmenden Menschen gewählt. So folgten auf Impulsvorträge Murmelrunden, Deep Listening, Austausch in intergenerationellen Kleingruppen, Momente des Innehaltens. Es gab nicht nur Futter für den Kopf, sondern viel Lernen mit allen Sinnen, im Kontakt mit Bäumen, drinnen und draußen, in Bewegung. Es fiel auf, wie mitfühlend diejenigen, die die Tagung gestalteten, auf die Teilnehmer:innen achteten – etwa auf diejenigen, die sich nicht in heteronormativen Geschlechterkategorien wiederfinden, und zugleich auf diejenigen, für die es befremdlich ist, sich mit Pronomen vorzustellen. Mit dieser Sensibilität und sorgsamen methodischen Gestaltung trug die Tagung Erkenntnissen der Neurodidaktik Rechnung, unter welchen Bedingungen Menschen am nachhaltigsten lernen. Auch in dieser Hinsicht handelte es sich bei „Politisch aktiv sein – und bleiben!“ um eine besonders nachhaltige Tagung.
Sophie Friedl
Weitere Informationen:
„Bildung spenden!“ heißt das Projekt, mit dem der Freundeskreis der Evangelischen Akademie Tutzing e.V. mehr Jugendbildung ermöglichen möchte, wo sie wichtig ist und nicht selbst finanziert werden kann. Denn der Freundeskreis hat es sich seit einigen Jahren zur Aufgabe gemacht, Jugendliche mit Stipendien für Tagungen der Akademie zu unterstützen.
Weitere Informationen finden Sie auf der Homepage des Freundeskreises direkt unter diesem Link: Über Uns – Freundeskreis Evangelische Akademie Tutzing
Berichterstattung zur Tagung:
„Politisch aktiv bleiben: Wie Klima-Engagierte neue Kraft schöpfen“ von Eva-Katharina Kingreen auf Sonntagsblatt.de bzw. direkt über diesen Link: